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Kinderängste

Wie sollte es auch anders sein? Kinder, die hierzulande noch in einigermaßen normalen Verhältnissen aufwachsen, werden nun mit ihren entsetzten Eltern und Großeltern von den Berichten vom Krieg in der Ukraine mehr oder weniger täglich überschwemmt. In den Augen der Mütter steht dann oft die blanke Furcht vor einer Ausweitung des Krieges. Und die Kinder sind mit Berichten der brennenden Gebäude und der zerschossenen Ruinen auf dem Bildschirm konfrontiert. Dazu dann noch all die Unsicherheiten beim Umgang mit dem Virus Corona. Schauergeschichten auch hier gehen durch die Wohnzimmer mit und ohne neue Lockdown-Drohungen. Wie wirkt sich das alles auf die Kinder aus? Gehen alle diese Berichte an ihnen ungestört in kindlicher Unbefangenheit vorüber? Aus den vielen Hilferufen, die mich immer noch erreichen, kann ich die Vermutung ableiten, dass viele unserer Kinder - wenn auch altersentsprechend verschieden - von all den bedrohlichen Berichten in ihrer Seele keineswegs unbeeindruckt, ja sogar nicht unbeeinflusst bleiben: Schulphobien, Einschlafstörungen, vor allem aber auch das nächtliche Aufschreien, ein uns Praktikern als Pavor nocturnus bekanntes Symptom, kommen bei mir immer öfter per Mail als elterliche Klagen an. Allerdings lässt sich auch hier nicht mit leichtfertiger Absolutheit meinen, besonders nächtliche Unruhe sei grundsätzlich ein Niederschlag der Außensituation. Kleinkinder z. B. haben in den ersten beiden Lebensjahren grundsätzlich Schwierigkeiten, sich an einen Tag-Nacht-Rhythmus der Eltern anzupassen. Je schwieriger die Geburt, umso größer ist die Sehnsucht nach totaler Mutternähe, um nur ein Beispiel zu nennen. Das hat mit dem Pavor nocturnus nichts gemein. Denn bei diesem steht - nach meiner Erfahrung in langjähriger Feldarbeit - immer ein schwer ängstigender Traum im Hintergrund. Das Kind träumt, dass es von mächtigen Ungeheuern bedroht wird und dadurch Flucht, Not und Tod erlebt. Hier muss also scharf getrennt werden zwischen dieser einen Ursache und vielen anderen Ursachen, z. B. dem Zahnen bei den Halbjährigen im Kleinkindalter. Aber bei den meisten Kindern, die mit einem echten Pavor nocturnus verschreckt aufwachen, steht, wie gesagt, ein Traum im Mittelpunkt. Deshalb kommt das nächtliche Aufschrecken häufiger eher in den Jahrgängen vor, in denen anhand ihrer Lebenserfahrung schon ein Stück weit das Bewusstsein ausgereift ist. Deswegen zeigt sich auch, dass sich der echte Pavor nocturnus bei Grundschulkindern meist mit realistischeren Inhalten füllt als bei den Kindern im Kleinkindalter. Bei diesen hat der Trauminhalt fast immer symbolischen Charakter.

Vielleicht ist es sinnvoll, für beide Fälle ein Beispiel zu bringen: Mindestens einmal in der Woche zwang der fast dreijährige Paul in der Nacht die Familie zum Aufwachen. Und nachdem er aus einer Art Schockstarre durch Anrufe herausgeholt worden war, sagte er jedes Mal: „Hat mich doch wieder gebeißt.“ Die Mutter holte sich Rat, weil ihr das völlig unverständlich war, denn sie hatten im Umfeld vielerlei Hunde, die freundlich mit ihm umgingen. Aber wenn die Mutter das Kind darauf am Morgen ansprach, sagte es energisch kopfschüttelnd: „Er ist böse, hat Maul und Augen und große Zahn.“ Die Aufgabe des Therapeuten besteht jetzt also darin herauszufinden, wofür dieser Höllenhund im Seelenleben des Dreijährigen symbolisch steht. Wo begegnet er in seinem Alltagsleben einer mächtigen Figur, die eine solche Bedrohung in ihm auslöst? Meistens lässt sich das dann mit Elternberatung doch schnell herausfinden und hier die Therapie ansetzen. In diesem Alter lässt sich aber auch diese familiäre Last ziemlich rasch dadurch beseitigen, dass man mit dem Kind ein Rollenspiel macht: „Ich bin jetzt du, sei du mal der Höllenhund.“ Im Spiel lasse ich mich von diesem angreifen. Ruhige Nächte folgten. Provozierte Wehrhaftigkeit kann also bei Kleinkindern den Pavor nocturnus verschwinden lassen. Sie fühlen sich nicht mehr hilflos und damit wird auch das Symptom überflüssig.

Bei Kindern im Grundschulalter ist das schon sehr anders. Hier lässt sich, besonders auch bei Mädchen, dieser Schreck in der Nacht auch schon einmal direkt ansprechen. Nachdem man als Therapeut ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, darf man in diesem Alter schon einmal fragen: „Was hat dich denn in der letzten Zeit so tief erschreckt, dass du Angst kriegtest, du müsstest sterben?“ Die dem Therapeuten anvertraute Antwort des Kindes ist dann meist schon ein weiterführender Hinweis. Die Seele gesunder Kinder sucht so in der Nacht in direkter Abwehr berechtigte reale Furcht zu verarbeiten.

Ein zweiter Fall soll das belegen: Ein achtjähriges Mädchen träumte immer wieder, dass ein riesiger Lastwagen mit feurigen Lichtern auf es zurase und es überfahre. Es erklärte mir dann aber auch: „Das habe ich jetzt so oft geträumt, dass ich nun schon mittendrin überlege, dass ich hinterher ja doch nicht tot bin.“ Die Mutter war sehr korpulent und führte in der Familie ein sehr bestimmendes Regiment. Mehr als einige Stunden mit dem Ziel einer Stärkung des Selbstwertgefühls des Mädchens und einige aufklärende Gespräche mit der im Grunde so bemühten Mutter ließen das nächtliche Symptom auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Ja, es träumen zwar heute in der Nacht wirklich mehr Kinder als früher ihre Befürchtungen heraus. Aber die Ursache der Angst aufzudecken, bleibt doch oft eine Sache des Therapeuten. Deren Palette ist groß: Halloween kann ebenso einen Pavor nocturnus hervorrufen wie - gar nicht mehr selten - ein sexueller Missbrauch, wie das Trauma nach einem Unfall oder der Eindruck nach einem Kriegsbericht im Fernsehen. Auf jeden Fall muss den Eltern vermittelt werden, dass Kinderseelen grundsätzlich verstörbar sind und es deshalb sinnvoll ist, die elterlichen Ohren dafür geduldig aufzuhalten; denn eindringliches direktes Nachfragen kann lange vergeblich bleiben.

Glücklicherweise haben wir hierzulande nun ja noch allerschönsten Frieden. Jetzt im Frühling mit den Kindern die Natur in Anspruch zu nehmen und die Familie auch durch ein intensiviertes Gebetsleben immer wieder in den Schutz unseres allmächtigen Gottes zu stellen, das ist aktuelle Hoffnung verheißende Elternaufgabe.


Christa Meves