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Übergewicht

Man braucht sich gar nicht erst an die stöhnenden Krankenkassen zu wenden, es reicht auch schon, auf das von Sorgen zerfurchte Gesicht des Herrn Gesundheitsministers zu schauen. Wie sich z. Z. erfahren lässt, hat die Zahl der Krankheiten hierzulande eine erschreckende Quantität angenommen - und zwar schon, bevor die Zahl der an Corona Erkrankten ins Gigantische stieg. Die Zahl der physischen Beeinträchtigungen ist schon seit Jahren kontinuierlich im Anstieg begriffen. Jetzt mehren sich aber auch die psychischen Erkrankungen, besonders die

Depressionen

(1). Dazu - fast synchron - schwillt die Häufigkeit der Fälle von

Adipositas

an, deren physische Beeinträchtigungen auf einem Übermaß von Fettleibigkeit beruhen. Und zwar sind hier nun auch bereits Kinder unter den Betroffenen. So hat sich z. B. der Anteil an übergewichtigen jungen Menschen in den OECD-Ländern

in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt

. Aber allein lässt sich dieser hohe Krankenstand mit Corona nicht begründen; denn dieser Anstieg hat längst vorher begonnen. Zu mehr als zu Anlass und Manifestation lässt sich Covid 19 dafür also nicht verwenden. Eindrucksvoll ist es in den Statistiken darüber hinaus auch, dass vor allem die Wohlstandsländer des Westens betroffen sind, und hier ist vor allem eine merkwürdige Parallelität der Zunahme von Fettleibigkeit (Adipositas) und Depressionen zu verzeichnen (3). Ein Zusammenhang zwischen diesen Krankheiten ist im Allgemeinen in der Bevölkerung unbekannt, obgleich die psychosomatische Forschung ihn schon lange im Fokus hat. Es waren bereits die Neoanalytiker in der Nachfolge Freuds, die hier so etwas wie eine Abfolge herausfanden. Sie betonen die Oralität (also eine Art Mundbetontheit) in den ersten Kinderjahren. Und es waren auch die Neonanalytiker, die falsche Pflegeformen als oft langfristige Voraussetzung für die Manifestation verschiedener Depressionsformen erkannten (4). Diese Sichtweise hat sich im letzten Jahrzehnt durch seriöse Forschungsergebnisse offenbar noch mächtig verstärkt. Sie betonen die Gewichtigkeit der Oralität durch den Beginn der Schwierigkeiten bereits in der Kindheit. Bei einer erheblichen Zahl von Kindern verflüchtigt sich im Grundschulalter dann eben nicht der Babyspeck und macht nicht dem Längenwachstum Platz, sondern bestimmt in den Sportstunden von Grundschulkindern heute manchmal sogar schon einmal das Timbre einer Gruppe.

Junge Mütter, die entweder selbst übergewichtig sind oder durch disziplinierte Diätformen Schlankheit bewahren, haben dieses erstaunliche Faktum natürlich längst bei ihren Kindern bemerkt. Es ist im familiären Alltag nur allzu üblich, bei Tisch dem jeweils betroffenen Kind zuzurufen: „Bist du immer noch nicht satt? Lass doch das Nachschaufeln!“ Aber nicht nur quantitativ übersteigerte Mengen bei den Mahlzeiten vor allem mit hochkalorischen Speisen sind hier üblich, sondern darüber hinaus ist fast regelmäßig ein übersteigertes Naschverhalten zu beobachten, wobei auch hochkalorisches Trinken, etwa von süßen Limonaden, mit einbegriffen zu sein pflegt. Dadurch ergeben sich nun physische Störungen, z. B. Bluthochdruck und Diabetes mellitus. Deshalb wird häufig zu einer durchgreifenden Kur geraten. Therapeutische Zentren dieser Art sind hierzulande in den letzten Jahrzehnten nur so aus dem Boden gesprossen, und zwar zunächst oft mit vorzüglichem Erfolg: Kinder vom Schulalter ab zeigen sich meist außerordentlich willig. Mit freundlichem Augenaufschlag stimmen sie den Therapievorschlägen zu. Bei den einen fällt das Gewicht dann auch kaskadenhaft, andere scheinen sich mit den Behandlern über den geringen Erfolg zu wundern. Aber das liegt - und das haben tüchtige Recherchierer auch schon herausgefunden - meist an raffiniert versteckten Süßigkeiten, die heimlich verzehrt werden. Die Erfolgreichen gehen, begeistert von der Familie begrüßt, in ihr Alltagsleben zurück. Immer häufiger müssen sie aber konstatieren, dass das Gewicht kontinuierlich wieder ansteigt, weil sie wieder zu viel essen. Der Body-Mass-Index macht jeden Selbstbetrug unmöglich. Manche junge Mädchen geben dann auch bekümmert zu: „Ich konnte dem Druck von meinem 'Schnuckerle' (nach einer bestimmten eingefahrenen Süßigkeit in der Jackentasche) nicht mehr widerstehen.“

Wenn man als Kindertherapeut praktisch arbeitet, lässt sich heute feststellen, dass es ein gewisser Typ ist, der leichter in diese Falle gerät. Ich habe diesen mundbetonten Typ in meiner Anthropologie als „Hingabetyp“ bezeichnet: Als Kleinkind sind die meisten betont anhänglich, meist aber sehr quirlig, eher von einer Unruhe, die ohne Konzentration schweift, als sei man immer auf der Suche. Es sind mehr Mädchen, aber auch Knaben, alle aber easy-going in ihrer Bereitschaft, Anordnungen von Erwachsenen zu folgen, früh schon, sich hilfreich zu zeigen, um bei den Großen beliebt zu sein. Das Übergewicht bildet sich in diesen Fällen mehr oder weniger im Verborgenen dennoch aus, und zwar selbst noch im Jugendalter, meist ohne dass sie das in ihrem Bewusstsein verankern. Dass es sich letztlich doch um ein Übermaß an Kalorien handelt, das sie täglich aufnehmen, wird meist lange geleugnet wie später auch regelmäßig etwa ein zu hoher Alkohol-, Rauschgift- und Zigarettenkonsum. Und das macht dann auch den typische Zusammenhang zur Depression sichtbar: Besonders bei denen, die sich dann schließlich doch mit dem Übergewicht konfrontieren und bei denen es oft in den Gemeinschaften zu manchem Mobbing gekommen war, häufen sich nun reaktiv depressive Stimmungen. Das kann heute bereits in der Pubertät lähmende Ausmaße annehmen. Es gibt aber auch andere, die den ganzen Konflikt einfach verdrängen, bis alles aus den Nähten platzt. Erst mit einer allgemeinen Krise des Selbstwertgefühls kommt es schließlich unversehens zu verzweifelter Bitterkeit auf der Waage. Neuerdings geben dann manche Ärzte den Rat, durch eine OP den Magen zu verkleinern und so dem Übel ein Ende zu setzen. Meistens wird das allerdings noch nach einem ausführlichen vorbereitenden Procedere bis ins Erwachsenenalter hinausgeschoben.

Natürlich ist dieses Erscheinungsbild nicht grundsätzlich so einheitlich, wie ich es eben hier jetzt gezeichnet habe. Aber eins fehlt selten: Die von den Freudianern so benannte Oralität hat vom Kleinkindalter ab facettenreiche Vorboten: Denn eigentlich nimmt schon viel früher eine im Untergrund depressive Gestimmtheit ihren Anfang. Alleingelassene Kleinkinder versuchen dann nämlich - vergeblich schreiend -, die betreuende Person herbeizurufen. Sie verstummen schließlich resignierend. Übrig bleibt aber eine allgemeine Unruhe. Doch das Kind sucht gleichzeitig Trost - im Fingerlutschen zunächst, Nägelbeißen, dem Lustsuchen am Kuscheltuch und dergleichen mehr, was sich bald zu fest eingefahrenen Gewohnheiten ausbildet. Hier zeigt sich schon der typische Suchtcharakter dieser psychosomatischen Störung. Der Druck, den Mund zu bedienen, wird immer mächtiger und verselbstständigt sich oft so, dass er lebenslänglich kaum wieder bezwingbar ist. Das führt nicht selten von der Vorpubertät ab zu einem frühen Beginn des Rauchens, auch des Konsums von Rauschgiften und/oder von Alkohol. Die jeweiligen immer maßloser werdenden Gewohnheiten pflegen sich dabei sukzessiv zu verselbstständigen, sodass der Mensch nur wenig Möglichkeit hat, dem Suchtdruck mit Willenskraft allein zu entfliehen. Das liegt daran, dass sich der übermächtige Lustcharakter bei gleichbleibender Bedienung einschränkt (auch schon bei Zigaretten oder Schokolade als Suchtmittel), also geradezu abschleift, sodass allein durch die Steigerung der Menge wieder die erhoffte seelische Entlastung erreicht werden kann.

Warum sind die Ursachen dieser Suchterkrankungen in der Gegenwart des wohlständigen Westens nicht bekannt? Warum gibt es keine rechtzeitigen, gezielt vorbeugenden Maßnahmen in der Pädagogik? Es lässt sich doch beobachten, was Säuglinge zufrieden macht. Denn unangemessene Maßnahmen, wie z. B. längeres Alleingelassensein, können später das Lebensglück und den Lebenserfolg des Menschen grundsätzlich mindern. Dieses traurige Schicksal ließe sich aber von den Pflegenden verhindern, wenn sie wüssten, dass ihre Maßnahmen für die seelische Gesundheit des neuen Erdenbürgers von so prägender Bedeutung sind. Natürlicherweise ist die Hauptbezugsperson die leibliche Mutter. Der Mensch hat eben von Anfang an eine Seele, die sich als elementares Bedürfnis nach Nähe sehnt. Ja, der Mensch ist eben von Anfang an auf Liebe geradezu programmiert! Wird dieses Gefühl in der ersten Lebenszeit nicht fest eingeprägt, so geht er nach Trost auf die Suche und findet diesen am einfachsten in Ersatzbefriedigungen mithilfe des eigenen Körpers oder bald dann auch in etwas Süßem oder in etwas, das schmeckt und sich in den Mund nehmen lässt.

Mit seinem Grundbedürfnis nach Nahrung und Nähe der Pflegenden erfüllt das Kind grundlegende Voraussetzungen zur Entfaltung von seelisch gesunder Ausgeglichenheit. In der maßgeblichen Einhaltung dieser Grundbedingung der Schöpfungsordnung gestaltet sich der kindliche Wachstumsprozess des normal geborenen Kindes. Es handelt sich um Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit, die - seinem Wachstum angemessen - im Kleinkindalter erlebt werden sollten, damit orale Fallen dieser Art vermieden werden. Das alles geschieht in natürlicher Abfolge, und zwar zunächst mithilfe der oral antreibenden Natur des Kindes. Nur dadurch wird das Kleinkind emotional satt und damit zufrieden: Denn sonst rächt sich die großmächtige Natur. Und das geschieht eben dann, wenn der das Kind betreuende Mensch diese Unabdingbarkeit der menschlichen Wachstumsbedingung unbeachtet lässt. Wenn das passiert, etwa indem das Kind nach angemessener Nahrung und nach Nähe zur Mutter seelisch hungrig bleibt, ergreift die Natur die Herrschaft - im Grunde letztlich dann wie ein wildes, nicht mehr zähmbares Tier ... und schließlich sogar als Endzustand im Manifestwerden der bis dahin latenten Depressivität.

Es bedarf opfervoller, langfristiger Therapien, um sich dem später entgegenzuwerfen. „Woher dann all die Engel nehmen?“, schrieb die Chefredakteurin der FAZ Heddi Neumeister - meine damals prognostizierende Warnung interpretierend - schon 1971 auf der Hauptseite dieser damals maßgeblichen Zeitung.

Trotz allen lebensverkürzenden Unglücks bis heute also nichts gelernt?

Aber so schlimm diese Zuwächse an Adipositas und Depression auch sind: Immer noch gibt es einzelne Familien, die liebevoll und echt naturgehorsam den Wachstumsgesetzen bei ihren Kindern genügen. Ein übermäßiges, materielles Wohlleben allein bewirkt es also nicht, dass es heute hierzulande bereits Kinder gibt, die im Begriff sind, ihre Lebensfreude zu verlieren. Sie haben dieses lauernde schwarze Loch in sich in den allermeisten Fällen nicht geerbt, sondern ohne Absicht der Eltern nur durch deren Unkenntnis für den angemessenen Umgang mit ihren kleinen Kindern in ihren ersten Lebensjahren - einrastend und lebenslänglich haftend - erworben.

Wäre das nicht für die Gesellschaftspolitik ein dringendstes Gebiet für Aufklärung und finanziell abstützende Maßnahmen zugunsten junger Familien?

Quellen:
(1) https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/depression
(2) https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/kindergesundheit/praevention-von-kinder-uebergewicht.html
(3) https://www.medmix.at/dicksein-und-depression/
(4) Schwidder, Werner: Neoanalyse. In: V. Frankl, V. W. von Gebsattel u. J. H. Schultz (Hrsg.), Handbuch der Neurosenlehre und der Psychotherapie, Bd. 3, München/Berlin 1959, S. 171-214


Christa Meves