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Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen

Verhaltensstörungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind im Blickfeld des praktisch arbeitenden Therapeuten hierzulande in den letzten Jahren – vermutlich unter dem Einfluss des Corona-Lockdowns – immer häufiger geworden. Im Erziehungsgeschehen gehören sie aber zu den Erscheinungen, die von den Laien selten einmal verstanden werden. Deshalb möchte ich heute einige der häufigsten von diesen Verhaltensstörungen beschreiben, damit Angehörige besser damit zurechtkommen. Dabei möchte ich mich auf solche beziehen, die festgeprägte steckengebliebene Abwehrbewegungen eines sich als wehrlos erlebenden Menschen darstellen, als ungewollte, häufig wiederholte Reaktion eines Kindes auf massive, ja manchmal gewaltsame Eingriffe eines erziehenden Erwachsenen. Wehrlos sind Kinder vor allem, weil sie wegen ihrer Schwachheit in der Abhängigkeit von den Eltern sind. Weil noch nicht genügend Bewusstsein und keine direkte Abwehrmöglichkeit vorhanden sind, pflegt die erste Reaktion auf einen unangemessenen Angriff wütendes, angstvolles Schreien zu sein. Aber wenn das trotz mehrerer Wiederholungen nicht hilft, versucht das Kind meist, den Gegenimpuls zu verdrängen und sich zu fügen. Doch das lässt der gesunde Entwicklungsimpuls in ihm auf die Dauer nicht zu. Völlig unbewusst entsteht an dieser Stelle dann oft eine Verhaltensstörung, die subjektiv also eine entlastende Funktion hat. In der frühen Kindheit bleibt dann aber nichts anderes übrig, als dafür den eigenen Körper zu benutzen. Zu den häufigsten Verhaltensstörungen gehören deshalb solche, die den eigenen Körper in Anspruch nehmen: das Nägelbeißen vor allem, das Haarausreißen seltener, ebenso wie unter anderem das Schorfaufkratzen. Grundsätzlich lässt sich sagen: Je geringer die Möglichkeiten sind, die dem Kind zur Verfügung stehen, umso mehr dient ihm der eigene Körper als Objekt. Andere Verhaltensstörungen kommen erst bei älteren Kindern vor: der Tic, das Ritzen, das Zähneknirschen, das Stuhlverhalten, zwanghaftes Händewaschen und letztlich auch das ganze Bündel von ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom). Hier dominiert vor allem die unkontrollierbare Bewegungsunruhe. Ihr Sinn besteht ebenfalls in einem unbewussten Suchen nach dem Richtigen gegen die übermächtig andrängende „Gefahr“ einer fortgesetzten seelischen Spannung, die durch die Unmöglichkeit einer Abwehr entstanden ist. Im Grunde handelt es sich um einen zwar unzureichenden, letztlich aber doch positiv gemeinten Versuch der Wiederherstellung gesunder Entfaltung.

Wie lässt sich diesen unwillentlich auftretenden und sich hartnäckig einschleifenden Symptomen zu Leibe rücken? Kundige Eltern, wissende Begleiter und Fachtherapeuten können hier gleichermaßen antreten. Für einen Erfolg braucht jeder darum Bemühte als Voraussetzung erst einmal folgendes Wissen: die Erkenntnis, dass hier in dem jungen Menschen etwas ohne dessen Willen die Macht ergriffen hat, und zwar mit dem Sinn, eine innere Spannung einzugrenzen, der das Kind emotional auf die Dauer nicht gewachsen wäre. Die Störung hat also subjektiv einen positiven Sinn. Doch die unsichtbare Macht, die dieses rohe Hilfsprogramm entwirft, entspringt nicht dem bösen Willen des Kindes, sondern beweist einmal mehr, dass in jedem von uns auch rohe Natur noch eine mächtige festprägende Kraft hat. Die ungewollt immer wiederkehrende Störung sucht unbewusst nach Entspannung, sucht dringlich nach Ausgeglichenheit gegen eine steckengebliebene subjektiv berechtigte Selbstverteidigung.

Bei den Versuchen, dem so Behafteten aus dieser Sackgasse herauszuhelfen, ist es nun allerdings unangebracht, wie ein Elefant im Porzellanladen mit Fragen, Auffordern zum Aufhören oder gar Vermutungen und Erklären über die vermutete Ursache zu reagieren. Dem können die Betroffenen im Allgemeinen nicht folgen, ja, es ist kontraproduktiv, weil sie das Geschehen selbst nicht verstehen. Fordern zum Aufhören quält sie deshalb und verletzt ihr Selbstwertgefühl. Bei den Bemühungen des Erziehenden muss deshalb ein Verhalten stehen, das mit Wissen um die Ursachen der Störung dem Betroffenen stattdessen mehr Zuwendung schenkt. Die Absichten des Erwachsenen sollten zunächst darin bestehen, dem Kind die Möglichkeit zu geben, sich gezielt motorisch zu entlasten. Die Jungen im Grundschulalter zieht dann meist spontan der Boxball, Mädchen das Trampolin an. Andere haben große Freude an Gestaltungsarbeiten mit Erde, mit dem Aufschütten eines Walls oder dem Eingraben von Pflanzen. Auch Spritzen, Sägen und Bildhauern können eine erhebliche positive Wirkung haben. In meiner Praxis gab es einen Keller mit einer Wanne voll Ton und jedes Kind hatte dort die Möglichkeit, aus diesem Ton etwas zu formen, es erkalten zu lassen und es dann mit einem Hammer zu zerschmettern und neu zu bewässern. Diese motorischen Betätigungen bewirken sehr häufig bereits, dass die Verhaltensstörung merklich nachlässt und manchmal sogar ganz verschwindet, ohne dass bei dem Kind eine Aufklärung erfolgte, zumal wenn es dafür noch zu klein und zu unreif ist. Dabei ist die Stärkung der motorischen Möglichkeit zur Selbstverteidigung ein wesentlicher Faktor der Heilung. Doch das Wissen des sich bemühenden Helfenden ist unumgänglich wie auch das aufgeklärte, ausgereifte Verstehen von Eltern. Um das zu erreichen, sind ungeschminkte Elterngespräche nötig, damit durch ihre Berichte die auslösende Vorgeschichte erklärbar wird. An dieser Stelle hat die Erfahrung gezeigt, dass es in unserer gekünstelten Zivilisation für Eltern nicht selbstverständlich ist, bei dem Kind ein gesundes seelisches Wachstum vorauszusetzen, sondern zu meinen, immerfort eingreifen zu müssen. Das kann bei dem Kind zu einer unbewussten Entfremdung gesunder natürlicher Lebensimpulse führen und dann eben zu unwillkürlich wiederholten Verhaltensstörungen.

Für Jugendliche, besonders junge Mädchen, ist es im letzten Stadium einer Therapie besonders angebracht, auch die Ursachen der Verhaltensstörung und die daraus resultierende Abwehr zu verstehen und zu verarbeiten. Dadurch wird es dann auch für Eltern von Jugendlichen viel besser möglich, das Wesen ihres Sohnes oder ihrer Tochter verständnisvoll zu erfassen und ihnen dadurch eher gerecht zu werden. Dem Kind oder dem Jugendlichen zuzuhören und ihn eher mittelbar in all seinem alltäglichen Verhalten zu begleiten, ist der Weg zum Besseren, nicht barsches Fordern, das auf Unkenntnis unbewusster, unwillentlicher Vorgänge beruht. Was lernen wir draus für Groß und Klein? Wir sollten eher instinktnah hellhörig sein. Je mehr Menschen im Umfeld im Bewusstsein haben, selbst von einem allmächtigen Gott gehalten zu sein, umso zielgerechter und gelassener können sie sich um den Umgang mit den Heranwachsenden bemühen.


Christa Meves