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Entfaltungsbedingungen in Elternhaus und Schule

Die Vielzahl der psychischen Störungen heute bewirkt offenbar, dass immer häufiger durch das Hervorheben einzelner Symptome eigenständige Krankheiten geschaffen werden. Das geschieht z.B. bei ADHS. So gehörten immer schon für den Fachmann z.B. motorische Unruhe und eine fluktuierende Aufmerksamkeit zu den Erstsymptomen psychischer Beeinträchtigungen. Ein tüchtiger Psychologe in den USA hat das dann zu einem Bündel von Kennzeichen zusammengefasst: Aufmerksamkeits- Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom.

MEVES AKTUELL März 2018

Die Vielzahl der psychischen Störungen heute bewirkt offenbar, dass immer häufiger durch das Hervorheben einzelner Symptome eigenständige Krankheiten geschaffen werden. Das geschieht z.B. bei ADHS. So gehörten immer schon für den Fachmann z.B. motorische Unruhe und eine fluktuierende Aufmerksamkeit zu den Erstsymptomen psychischer Beeinträchtigungen. Ein tüchtiger Psychologe in den USA hat das dann zu einem Bündel von Kennzeichen zusammengefasst: Aufmerksamkeits- Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Heute ist zumindest in der Kinderheilkunde aus diesem Syndrom so etwas wie eine durch Gene bedingte Schicksalserkrankung geworden. Das Kind hat eben ADHS. Es bekommt deshalb ein dopendes Medikament, das langfristig einzunehmen ist. Die aufgescheuchte Elternseele hat damit zunächst ihre Ruhe.

Dergleichen gibt es nicht nur bei diesem Symptombündel. Eine ähnliche Situation ergibt sich auch beim Aufschiebeverhalten von Kindern. Wenn sich dieses Verhalten einschleift, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es auch in den weiteren Lebensabschnitten beibehalten wird. Im Kindesalter pflegt dieses Symptom spätestens um die 10-Jährigkeit herum als eine sich einbahnende Schwierigkeit im Verhalten des Kindes grob sichtbar zu werden, z.B. beim morgendlichen Vorbereiten auf den Gang zur Schule. Das Kind mag noch so rechtzeitig geweckt worden sein; aber das Ankleiden schon erweist sich als eine kaum überwindbare Schwierigkeit. Es dauert immer länger, bis T-Shirt und Hose angezogen sind und erst recht die Schuhe, besonders wenn dort Verschnürungen notwendig werden. Wiederholte Ermahnungen bewirken eher weitere Verlangsamung. Nur mit Hast, und oft unter Mithilfe der Eltern, kommt das Kind in die Jacke. Im besten Fall steckt Mama noch ein Schulbrot in den Rucksack; denn mehr Zeit ist nicht, um den Schulbus zu erreichen oder sonst wie pünktlich in der Schule einzutreffen. Beklemmend ist es dann für besorgte Eltern, dass sich diese Verlangsamung bei den Schularbeiten dramatisch fortsetzt. Das Kind - in den meisten Fällen handelt es sich um einen Jungen - fängt gar nicht erst an, das notwendige Soll an Schulaufgaben zu erledigen, geschweige denn etwa von sich aus eine Klassenarbeit vorzubereiten, wie das viele Mädchen viel öfter zustande bekommen. Unweigerlich sinkt so auf die Dauer der Zensurenschnitt bei dem entsprechenden Schüler ab, und das verelendet sein Leben mit Elternärger und „Ehrenrunden“.

Auch diese Symptomatik ist nur allzu oft dabei, zu einem eigenständigen Krankheitsbegriff zu werden. Hier schleift sich jetzt eine geradezu halsbrecherische Bezeichnung mit dem Namen „Prokrastination“ ein.

Im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung erweckt diese Beeinträchtigung mehr Aufmerksamkeit bei Erwachsenen - vorrangig bei Handwerksbetrieben, die dringend Auszubildende brauchen und nach einer hinreichenden Zahl von Fachkräften suchen. Immer öfter schaffen es von Prokrastination befallene junge Männer nicht, pünktlich zu sein und die jeweiligen Aufträge in der dafür zur Verfügung stehenden Zeit auszuführen. Obgleich sie oft sogar die vorbereitenden Intelligenztests bestanden haben, verhindert ihre kaum überwindbare Verlangsamung den Lernerfolg. Resigniert und traurig sehen sich viele Meister dann genötigt, die Auszubildenden wieder zu entlassen.

Aber trotz des nun immer offensichtlicher werdenden Fachkräftemangels ist unsere Gesellschaft weit davon entfernt - wie bei vielen anderen schon im Kindesalter auftretenden Erstsymptomen - zu erkennen, inwiefern sich hier eine generelle Erfolgsminderung in der Lebensarbeit der jungen Generation ankündigt. Und natürlich ist man infolgedessen nicht in der Lage, daraus Schlüsse zu ziehen, die das häufige Auftreten solcher Störungen mindert. Denn jetzt müsste zunächst die Frage gestellt werden: Welches sind die Ursachen, die sich meist bereits im Kindesalter eingeschliffen haben? Dazu ist es lohnend, die Erziehenden ausführlich um ihren pädagogischen Stil zu befragen. Auch in unserer liberalisierten Welt gibt es heute Kinder, die oft einem Unmaß an Leistungsforderungen ausgesetzt sind. Manchmal geschieht das z.B. bei ehrgeizigen Eltern mit verpflichtenden Hobbys im Hinblick auf die Sport- oder Musikkarriere ihrer Kinder. Da gibt es sogar manchmal noch sehr unnachgiebige Zuweisungen. Die Erziehenden machen einfach so viel Druck, dass das für die anfangs durchaus willige Kinderseele zu einer unerträglichen Überbürdung wird. Andere Kinder geraten manchmal in eine resignierte Lage, wenn sie in der Familie zu einem „Sündenbock“ geworden sind, z.B. als einziger Junge in einer eng zusammengeschlossenen Schar von älteren Schwestern, die in unbewusster Grausamkeit den kleinen Bruder zu ducken suchen. Früher Verlust naher Bezugspersonen, vorab der Mütter, etwa durch Heimerziehung, erzeugt allgemein Lernbehinderung, wissen wir Therapeuten schon lange. Jedenfalls haben sich Verhältnisse dieser Art so eingeschliffen, dass diese Kinder keinen hinreichenden Ausweg fanden, um den ihnen subjektiv unangemessenen Forderungen in ihrem Umfeld zu begegnen. Damit sich eine solche Störung ausbildet, muss es sich dabei immer um die Nötigung zu Lebensweisen und zu Tätigkeiten handeln, die die eigentliche individuelle seelische und geistige Ausreifung blockieren.

Die Reifungsschritte des Menschen in der frühen Kindheit haben nämlich höchst natürliche Voraussetzungen. Diese stimmen strukturell sogar weitgehend mit denen von allen anderen Geschöpfen überein! Je unvollständiger der Keim am Anfang war, umso mehr bedarf das Geschöpf des ihm angemessenen Umfelds, der angemessenen Versorgung. Diese hat zwar je nach Spezies unterschiedliche Bedingungen, aber die Struktur folgt einem allgemeinen Wachstumsgesetz, einer Ordnung, die durch festgelegte Naturgesetze bestimmt wird. Diesen unterliegt auch das Menschenkind! Das bedeutet aber keineswegs, dass der Mensch ein Tier ist. (Für ihn gehört Höheres, stark Differenzierendes, zum Schöpfungsplan.) Doch in unserer verkünstlichten Welt fehlt die Einsicht darüber, dass der Mensch anfangs auch den Reifungsbedingungen der Schöpfungsordnung unterliegt. Naturgerecht muss es also in den ersten Lebensjahren des Kindes zugehen, mit Spielraum für die Erfüllung dieser Grundanlagen. Das bedeutet, dass die Belange des einzelnen Kindes beim Pflegen und Erziehen viel mehr Beachtung finden müssten; denn sonst kann in dem Kind eine unbewusste Resignation entstehen, aus der heraus sich im Erwachsenenalter nur allzu häufig eine Depression manifestiert - zumal, wenn der unbewusste Widerstand sich im Ausbildungsgang als Aufschiebepraxis zeigt.

Die kostbare Pflanze Kind braucht also zwar sorgsame artgemäße, aber dennoch auch individuelle Pflege. Aus diesem Grund wird natürlicherweise jedem Kind ein Elternpaar zuerteilt, natürlicherweise die beiden Menschen, aus denen es hervorgegangen ist. Allein schon von dieser Funktion her haben diese beiden die größte Chance, ihr Kind so zu lieben, dass sie ihm in einer es gesund erhaltenden Weise gerecht werden können. Aber vor all ihren Bemühungen brauchen die Eltern Wissen darüber, wo die Ursachen liegen, statt verzweifelt mit dem apodiktischen Ruf: „Nun mach doch, nun mach doch endlich mal!“ zu reagieren.

Was ist sonst noch nötig für Eltern mit einem Aufschiebekind? Sie brauchen wie Salomo ein hörendes Herz; denn solange die Kinder in dieser Hinsicht noch nicht verzagt sind, pflegen sie bald schon unbewusst - oft mehr oder weniger versteckt - zu artikulieren, woran es ihnen mangelt. Das ist oft nicht einfach herauszufinden. Solange zunächst noch Wutanfälle des Kindes sein Verhalten auffällig machen, pflegt die Szene von Unverständnis beherrscht zu werden. Erst die Misserfolge draußen alarmieren... Andererseits: Wenn die eigentliche Ursache der Störung aber von den Erziehenden - am besten so früh wie möglich - erkannt wird, sogar schon dann macht das Kind meist den Ansatz, zu der eigentlichen Ursprungsfreude des Hineinflitzens in sein Leben zurückzufinden.

Wenn wir in unserer Gesellschaft, überhäuft mit depressiven Prokrastinisten, durch deren Leistungsminderung nicht in die Verarmung gehen wollen, brauchen wir hierzulande sehr grundsätzlich mehr Förderung natürlicher, gesund erhaltender Entfaltungsbedingungen in Elternhaus und Schule.

Christa Meves


Christa Meves