Eine pathologische Entwicklungsgeschichte Das Massaker von Oslo wirft die Frage auf, ob durch Recherchen über die Ursachen der Motivation des massenmörderischen Terroristen Vorbeugungsmaßnahmen getroffen werden können. Vergleiche mit den deutschen amoklaufenden Schülermördern bieten sich ebenso an, wie auch die psychiatrischen Erfahrungen mit pathologischen Entwicklungen von jungen persönlichkeitsgestörten Menschen.
MEVES AKTUELL August 2011
Eine pathologische Entwicklungsgeschichte Das Massaker von Oslo wirft die Frage auf, ob durch Recherchen über die Ursachen der Motivation des massenmörderischen Terroristen Vorbeugungsmaßnahmen getroffen werden können. Vergleiche mit den deutschen amoklaufenden Schülermördern bieten sich ebenso an, wie auch die psychiatrischen Erfahrungen mit pathologischen Entwicklungen von jungen persönlichkeitsgestörten Menschen. (Meine langjährige Gutachtertätigkeit bei Jugendgerichten mag Erwägungen dieser Art legitimieren.)
Im Fall des Norwegers Anders Breivik ist Ursachenforschung eher möglich, weil der Täter keinen Suizid geplant hat, sondern seine mörderischen Aggressionen zu einem weltanschaulichen politischen Fanal umgemünzt, ein umfängliches Manuskript darüber, (über die angebliche „Notwendigkeit seiner Taten“) verfasst hat und nach seiner Festnahme und Inhaftierung eine bekennerhafte Redseligkeit an den Tag gelegt hat. Bei kompetenter Befragungstechnik wird (unabhängig von evtl. zwielichtigen Hintergründen von Außen) zumindest ein psychologisch aufschließendes Täterprofil erstellbar sein. Einige Vermutungen auf psychologischem Feld dürfen dennoch gewagt werden, zumal bei Gewalttaten politische und weltanschauliche Zielrichtungen erfahrungsgemäß oft lediglich als Folge einer sich langjährig anbahnenden pathologischen inneren Befindlichkeit, also erst nachträglich - oft als sich selbst täuschende Scheinbegründung aggressiver Umtriebe - in Erscheinung treten.
Aufklärende entwicklungspsychologische Daten sind noch spärlich. Der 32-jährige entstammt einer zerbrochenen Familie. Sein Vater hat sich von seiner Mutter, einer Krankenschwester, kurz nach der Geburt des Sohnes getrennt und ist - als einstiger Diplomat – nach Brasilien ausgewandert. Ein Kontakt mit dem Sohn soll seit dessen Jugendalter nicht mehr vorhanden gewesen sein. Der Täter ist also Kind einer alleinerziehenden Mutter, mit der er bis vor kurzem einen gemeinsamen Wohnsitz hatte. Nach dem Abitur hat Anders Breivik nach eigenen Angaben durch einen Handel mit Computersoftware reichlich verdienen können. Mitgliedschaften in eher rechten Vereinigungen, erfolgreiche Freimaurermitgliedschaft (er brachte es bis zum Master!) und eine mehrjährige Teilnahme in einem Schießclub, sowie eine Bevorzugung von Computerkillerspielen und Lust an brutalen Filmen bestimmten – ebenfalls nach eigenen Angaben - das Freizeitverhalten des jungen Mannes.
Von Ausbildungen, Studien und weiteren Zertifikaten ist beachtenswerterweise nirgends die Rede. Allerdings darf nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, das diese von ihm selbst dargelegten Daten der Wahrheit entsprechen. Es ist auch möglich, dass diese Story die Grundlage eines böse von außen für ihn allein passend zurechtgeschnittenes Ränkespiel sein könnte. Mehr als eine Hypothese kann es also nicht sein, die mörderisch eskalierenden Taten als den destruktiven Schlusspunkt in der Reihung von Mosaiksteinen einer sich pathologisch aufbauenden Lebensgeschichte zu sehen: Schon eine unglückliche, stressreiche Schwangerschaft kann – so behaupten neuerdings die Epigenetiker – eine fundamentale pathologische Veränderung in den Genen des Fötus bewirken. Und lebenslänglich prägende Schädigungsmöglichkeiten des sich konstituierenden Gehirns sind erst recht in den ersten Lebensjahren möglich. Zureichende Daten über die frühe Kindheit des Täters fehlen hier allerdings noch.
Der Vater fehlte. Doch er existierte! - weit, weit weg zwar, aber offenbar ohne sich um seinen Sohn zu kümmern. Das macht Wut, Dauerwut, je bewusster dem Sohn der Mangel wird, mehr Wut im Allgemeinen als die von Kriegswaisenkindern. Von einer Mutter großgezogen zu werden, die durch diesen Ehemann ins Unglück gestürzt und für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen hat, bedeutet – so lehrt psychotherapeutische Erfahrung – besonders für ein Einzelkind viel Alleinsein, ja ein oft jahrelanges, immer wieder enttäuschtes Warten auf die Mutter, was, besonders bei Jungen, Wut geradezu aufstaut. Diese findet aber nur unzureichende Angriffsventile schon gar nicht gegen die Mutter, wenn diese sehr bemüht ist, sodass spätestens im Jugendalter nach Entlastung der gestauten Aggressivität gesucht wird.
Für Kinder in einer solchen Situation haben Killerspiele eine entlastende Funktion. Deshalb weitet sich die Begeisterung für sie oft zu süchtiger Steigerung, ja Abhängigkeit mit Eingrenzung des Freiheitsspielraumes aus. Eine gefährliche Steigerung ergibt sich dadurch, dass langfristig durch das viele fiktive Töten am Bildschirm die Hemmschwelle für das Töten in direkter Konfrontation abgesenkt wird. (Seit dem Vietnamkrieg hat das USA-Militär entsprechende Übungen durchgeführt, sodass diese Auswirkung später wissenschaftlich erhärtet werden konnte.)
Bei dem Ablauf des Massakers auf der norwegischen Insel hat sich ein solcher Übungseffekt (einen Mitmenschen dann von Angesicht zu Angesicht töten zu können), in einer grausige Weise weiterhin bewahrheitet. Das lässt sich aus der hinterhältigen Planung des Mörders ableiten: Er betrat als Polizist verkleidet die Insel und trommelte die Jugendlichen zusammen, angeblich, um sie über die Terrortat in Oslo zu informieren. Dann hat er aus nächster Nähe auf die gespannt zu ihm hinschauenden Jugendlichen gezielt zu schießen begonnen – in geplanter, auf Quantität bedachten Tötungsabsicht und grausig gekonnter Ausführung; denn das war lange geübt – schauerlich ähnlich wie vermutlich bei den Amokläufern in Erfurt und Winnenden!
Die scheinbar rationalen Begründungen seiner Taten als heldisches, sich selbst aufopferndes Fanal für eine gefährdete Welt sollte bei dieser Vorgeschichte also nicht überbewertet werden. Sie sind vermutlich grauenhafte, auf dem Boden der Pathologie des Täters entstandene Auswirkungen, die als Voraussetzung einer jahrzehntelang angestauten Aggressivität und der süchtig machenden Killerspiele bedurften: Wie bei jeder Sucht lechzt der Abhängige nach einer Steigerung der Scheinbefriedigung auf der Suche nach der Umfriedung seines unbewussten fundamentalen Mangels. Der durch die Sucht hervorgerufene Wunsch, de facto das Töten von wirklich lebenden Menschen zu planen und über Monate unter wachsendem innerem Druck auszufantasieren, ist eine noch viel zu wenig ernst genommene Versuchung für junge Menschen, denen angemessene Ventile zur Selbstverteidigung in ihrer Kindheit verwehrt waren.
Es ist allerdings niemals die gezüchtete Tötungslust allein, die selbstmörderische Gewalttaten dieser Art zu bewirken vermag. Solche Eskalationen bedürfen als Folge einer sich pathologisch steigernden Lebensentwicklung – dann auch noch der dann zur Falle werdenden verführerischen Beeinflussungen von Außen. Ihnen verfällt ein mit Aggressionen gefülltes Pulverfass eben eher zu, wenn sie Ventile gegen den innerseelischen Zerstörungsdruck zu ermöglichen scheinen.
Das Massaker sollte vorbeugende pädagogische Schlussfolgerungen haben!